Besser leben mit Demenz, Geschichten

Ein neues Zugeständnis an die Sicherheit

Das Recht auf Frei­heit ist für uns nicht nur ein Grund­recht, wir sehen es als das essen­zi­el­le Gebot für per­sön­li­ches See­len­heil. Die Mög­lich­keit, dort hin­zu­ge­hen, wo man sich wohl fühlt oder gebraucht wird sowie die Chan­ce, sich aus unan­ge­neh­men Situa­tio­nen zu befrei­en, bedeu­tet ech­te Selbst­be­stim­mung. Doch was muss pas­sie­ren, wenn Frei­heit und Sicher­heit kol­li­die­ren?

Wie die Bewohnerbesprechung uns auf neue Wege führt – ein spannender Erfahrungsbericht

Nie zuvor war es für uns eine Opti­on, unse­re Gäs­te zu über­wa­chen, wenn sie ihrem Bewe­gungs­drang nach­kom­men woll­ten. Wir ken­nen die Men­schen, die bei uns woh­nen, wir haben ihre Bio­gra­fie ein­ge­hend bespro­chen und einen Betreu­ungs­plan ent­wi­ckelt, der sich an ihren Bedürf­nis­sen ori­en­tiert. Doch stel­len sich im Lau­fe der Jah­re schlei­chen­de Ver­än­de­run­gen in der Per­sön­lich­keits­struk­tur der Betrof­fe­nen ein und irgend­wann kommt der Moment, wo ihr Ver­hal­ten sie oder Ande­re in ernst­haf­te Gefahr brin­gen kann. 

Men­schen gänz­lich ihrer Frei­heit zu berau­ben oder zu sedie­ren, kommt für uns nach wie vor nicht infra­ge, denn Bewe­gung wirkt sich nicht nur auf die kör­per­li­che, son­dern auch auf die psy­chi­sche Gesund­heit aus­ge­spro­chen posi­tiv aus. Doch der außer­ge­wöhn­li­che Bewe­gungs­drang einer unse­rer Bewoh­ne­rin­nen hat uns kürz­lich dazu ver­an­lasst, ver­än­der­te Zuge­ständ­nis­se an die Sicher­heit zu machen. Wäh­rend unse­rer regel­mä­ßig statt­fin­den­den Bewoh­ner­be­spre­chung haben wir ihre Ist-Situa­ti­on ana­ly­siert und beschlos­sen, ihr zulie­be neue Wege zu gehen. Ger­ne berich­ten wir hier ein­mal von unse­ren Erfah­run­gen mit einer Maß­nah­me, die uns ursprüng­lich so abge­schreckt hat­te, um Ihnen die Wich­tig­keit unse­rer Bewoh­ner­be­spre­chun­gen zu ver­an­schau­li­chen. Damit die Per­sön­lich­keits­rech­te unse­rer Gäs­te gewahrt blei­ben, haben wir die fol­gen­de Geschich­te einer rea­len Bege­ben­heit nach­emp­fun­den. 

Wenn die Menschen sich selbst fremd werden

Bar­ba­ra ist schon weit über sieb­zig Jah­re alt, doch ihre kör­per­li­che Fit­ness ent­spricht fast der einer 45-jäh­ri­gen. Sie wohnt seit rund drei Jah­ren bei uns und macht nor­ma­ler­wei­se jeden Mor­gen und jeden Nach­mit­tag einen län­ge­ren Spa­zier­gang, von dem sie jedes mal ent­spannt und glück­lich zurück kommt. Sie kennt ihre Stre­cken zwar, trägt aber vor­sichts­hal­ber einen Anste­cker, mit unse­ren Kon­takt­da­ten und dem Hin­weis „Brin­ge mich nach Hau­se“, damit die Men­schen im Ort ihr im Fal­le einer auf­tre­ten­den Des­ori­en­tie­rung behilf­lich sein kön­nen. 

Ihre hei­te­re, aus­ge­gli­che­ne und zuvor­kom­men­de Art macht Bar­ba­ra zu einer ange­neh­men Mit­be­woh­ne­rin. Sie enga­giert sich ger­ne in der Küche und im Gar­ten, hilft beim Gemü­se schnei­den, Spü­len und Bepflan­zen der Bee­te und erfreut sich jedes mal an den Ergeb­nis­sen ihrer Arbeit. Als sich eine schlei­chen­de Ver­än­de­rung in ihrem Ver­hal­ten bemerk­bar macht, stel­len wir uns dar­auf ein. Wir bemü­hen uns dar­um, ihre Freu­de an Haus­ar­beit auf­recht zu erhal­ten und haben immer ein Auge auf sie, wenn sie ihre Aus­flü­ge in die Umge­bung unter­nimmt. Doch im Lau­fe der Zeit wer­den die Ver­än­de­run­gen in ihrer Per­sön­lich­keit stär­ker. 

Unse­re lie­be Mit­be­woh­ne­rin Bar­ba­ra emp­fin­det schließ­lich kei­ne Freu­de mehr an Haus- und Gar­ten­ar­beit, redet ihr Enga­ge­ment selbst schlecht und macht klar, dass sie nicht län­ger bereit ist „für ande­re zu arbei­ten“. Ihre Spa­zier­gän­ge zum Aggres­si­ons­ab­bau wer­den immer län­ger und schei­nen ihr den­noch nicht die erwünsch­te Ent­span­nung zu ver­schaf­fen. Die einst so aus­ge­gli­che­ne, fröh­li­che Dame ver­liert selbst bei kleins­ten Vor­komm­nis­sen ihre Ruhe, schlägt dann mach­mal Mit­be­woh­ner und Pfle­ge­kräf­te im Affekt. Par­al­lel zu dem für sie unge­wöhn­li­chen Ver­hal­ten stellt sich eine Wei­ge­rung zum Toi­let­ten­gang ein. Eines Tages stel­len die Betreuer*innen fest, dass Bar­ba­ra ihre Ver­dau­ung nur noch in der Natur erle­digt, oben­drein wir­belt sie nachts auf lei­sen Soh­len durchs Haus und ver­steckt ihre gesam­te Klei­dung. 

Verändertes Verhalten verstehen und unser Weg zur Lösungsfindung

Um das neue Ver­hal­ten von Bar­ba­ra zu ver­ste­hen und ent­spre­chen­de Hil­fe­leis­tun­gen zu erar­bei­ten, haben wir als Betreuer*innen ihre Bio­gra­fie zugrun­de gelegt. Ange­hö­ri­ge von Bar­ba­ra hat­ten berich­tet, dass sie als Kind von Ver­trie­be­nen Jah­re der Not durch­le­ben muss­te. Nicht nur die Flucht und der damit ver­bun­de­ne Ver­lust der Hei­mat, son­dern auch die lan­ge Kriegs­ge­fan­gen­schaft des Vaters, die Sor­gen der Mut­ter, die Unter­brin­gung der Geflüch­te­ten ohne jeg­li­che Pri­vat­sphä­re, bescher­ten Bar­ba­ra eine Kind­heit in Angst und sozia­ler Käl­te. Ihre Mut­ter zeig­te sich grund­sätz­lich unzu­frie­den mit allem, was Bar­ba­ra tat und kri­ti­sier­te ihre Arbeits­ein­stel­lung. Ange­sichts der Aus­weg­lo­sig­keit die­ser Situa­ti­on ergab sich das Kind sei­nem Schick­sal und mach­te Freund­lich­keit, Zurück­hal­tung und Fleiß zu sei­nen vor­herr­schen­den Tugen­den. Als erwach­se­ne Frau behielt Bar­ba­ra die­se Ver­hal­tens­wei­sen bei – denn damit konn­te sie jeg­li­che Kri­tik an ihrer Per­son ver­mei­den. Mit dem Fort­schrei­ten der demen­zi­el­len Erkran­kung fiel die­se Form der Selbst­be­herr­schung jedoch Stück für Stück von ihr ab. Das gemaß­re­gel­te Kind in ihr fing an zu rebel­lie­ren und der Natur gemäß mit allen Mit­teln für sei­ne eige­nes Selbst, sei­ne eige­nen Wer­te und Maß­stä­be zu kämp­fen. 

Bar­ba­ras kom­plet­te Wei­ge­rungs­hal­tung gegen­über ihren ursprüng­lich so hin­ge­bungs­voll durch­ge­führ­ten Arbei­ten in Haus und Gar­ten sowie die Ver­zwei­fel­ten Angrif­fe gegen Men­schen, die sie kri­ti­sier­ten oder kor­ri­gie­ren woll­ten, zeig­ten uns ganz deut­lich, dass die Aus­wir­kun­gen der Demenz einen Punkt erreicht hat­ten, an dem unse­re lie­be Mit­be­woh­ne­rin von den trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen ihrer Ver­gan­gen­heit über­wäl­tigt wur­de. Weil der dar­aus resul­tie­ren­de Stress eine Kas­ka­de von Pro­zes­sen in Gang setzt, die zu einer Gefähr­dung von Leib und Leben füh­ren kön­nen, beschlos­sen wir medi­zi­ni­sche und orga­ni­sa­to­ri­sche Maß­nah­men zu Bar­ba­ras Ent­las­tung ein­zu­schlei­chen.

Unter ärzt­li­cher Auf­sicht erhält Bar­ba­ra inzwi­schen die mini­ma­le Dosis eines bei Demenz hilf­rei­chen Beru­hi­gungs­mit­tels. Obwohl wir bis­lang die medi­ka­men­tö­se Ruhig­stel­lung unse­rer Gäs­te ablehn­ten und zuerst immer nach ande­ren Lösungs­we­gen suchen, erweist sich die­ses Zuge­ständ­nis an das Wohl­erge­hen als not­wen­dig und rich­tig. Denn ihre demen­zi­el­le Erkran­kung lässt Bar­ba­ra reflex­ar­tig aus Impul­sen her­aus han­deln, die der archai­sche Teil des mensch­li­chen Gehirns als Über­le­bens­stra­te­gie anwen­det und oft über das Ziel hin­aus schießt.  

Als zwei­te Maß­nah­me haben wir Bar­ba­ra ein schö­nes Arm­band mit GPS-Sen­der geschenkt, das sie mit eini­gem Stolz trägt. Anfangs haben die agi­le Dame mit Hil­fe des Sen­ders auf­ge­spürt, sobald sie einen län­ge­ren Zeit­raum als üblich spa­zie­ren war, doch muss­ten wir irgend­wann fest­stel­len, dass unser Schütz­ling sich mehr und mehr über­for­dert, extrem lan­ge Stre­cken zurück legt und sich dann nicht mehr ori­en­tie­ren kann. Nach­dem wir Bar­ba­ra immer öfter erschöpft, hung­rig und durs­tig in meh­re­ren Kilo­me­tern Ent­fer­nung vom Haus auf­le­sen muss­ten, beschlos­sen wir ein wei­te­res Zuge­ständ­nis in Rich­tung Über­wa­chung zu ergrei­fen. Dank der Funk­ver­bin­dung zwi­schen dem GPS-Arm­band und unse­rem Care­Pad, ließ sich ein digi­ta­ler Schutz­raum von 2 km Radi­us für Bar­ba­ra ein­rich­ten. Nun kann sie ihre drin­gend zur Stress­be­wäl­ti­gung nöti­ge Bewe­gungs­frei­heit aus­le­ben, wäh­rend wir eine schüt­zen­den Hand über sie hal­ten. Denn sobald sie den Bereich ihrer Schutz­zo­ne ver­lässt, bekom­men wir Betreuer*innen ein Signal auf dem Care­Pad und Bar­ba­ras Weg lässt sich nach­ver­fol­gen. Wenn wir sie dann auf­su­chen, freut sie sich, uns zu sehen und ist froh, wie­der nach Hau­se zu kom­men. 

Zusätz­lich zu den Maß­nah­men für mehr inne­re Ruhe und ver­hält­nis­mä­ßi­ge Bewe­gung, haben wir ein sanf­tes Toi­let­ten­trai­ning ange­fan­gen und bewah­ren Tei­le ihrer Klei­dung sepa­rat auf. 

Menschen helfen, ohne sie zu verbiegen

Uns ist wich­tig, dass wir die Men­schen nicht ver­bie­gen. Der Pro­zess, den das Nach­las­sen der Selbst­be­herr­schung mit sich bringt, befreit einen manch­mal lan­ge unter­drück­ten Bereich im wah­ren ich des Men­schen. In Bar­ba­ras Fall ist es das unter­drück­te Ich des Kin­des, das sich die lang ersehn­te Frei­heit ver­schafft. Das die Din­ge tut, die auch die erwach­se­ne Frau eigent­lich schon immer hät­te tun sol­len: für sich und sei­ne eige­nen Bedürf­nis­se ein­ste­hen, sich auch mal aggres­siv durch­set­zen, sich von gesell­schaft­li­chen Zwän­gen abwen­den und einen eige­nen Weg fin­den. Doch so wun­der­voll die­ser Pro­zess im Kern auch ist, so zer­stö­re­risch kann er sein, wenn er einer in der Kind­heit gebro­che­nen See­le völ­lig unkon­trol­liert Raum ver­schaf­fen will. 

Die Bewohnerbesprechung als Ausgangsbasis

Um die­sen Pro­zess zu erken­nen und mög­lichst sanf­te Maß­nah­men zur Unter­stüt­zung eines von Demenz betrof­fe­nen Men­schen ein­lei­ten zu kön­nen, muss man sei­ne Bio­gra­fie ken­nen. Je fei­ner das Netz aus Infor­ma­tio­nen ist, des­to bes­ser lässt sich erken­nen, was die­se Per­son in jenen Momen­ten antreibt, in denen sie ihre alte Ver­fas­sung – ihre auf­ok­troy­ier­te Selbst­be­herr­schung mal ein­büßt. Des­halb legen wir so gro­ßen Wert auf unse­re Bewoh­ner­be­spre­chun­gen. In der Run­de aus Betreu­ungs- und Pfle­ge­kräf­ten gehen wir alle Infor­ma­tio­nen über die betrof­fe­ne Per­son durch, legen Fak­ten dar, schil­dern uns gegen­sei­tig unse­re Beob­ach­tun­gen und Erleb­nis­se, über­prü­fen unse­re Betreu­ungs­maß­nah­men auf ihren Erfolg und ändern gege­be­nen­falls alles Mach­ba­re. So erschaf­fen wir einen leben­di­gen Orga­nis­mus aus Infor­ma­tio­nen, Wahr­neh­mun­gen und Anpas­sun­gen, der sich aus­schließ­lich an den Bedürf­nis­sen unse­rer Gäs­te ori­en­tiert. Wir als Pfle­ge- und Betreu­ungs­kräf­te kön­nen dadurch unse­re Selbst­re­fle­xi­on schu­len und unser eige­nes Ver­hal­ten bewusst steu­ern ler­nen.

Ein Fazit unserer Philosophie

Die Bewoh­ner­be­spre­chung hilft also, unser unbe­wuss­tes Han­deln ins Bewusst­sein zu holen und es dort einer Über­prü­fung oder Umstruk­tu­rie­rung zu unter­zie­hen. Gemein­sam ent­wi­ckeln wir uns vom Indi­vi­du­um zum Kol­lek­tiv, wo aus dem pro­blem­ori­en­tier­ten ein bedürf­nis­ori­en­tier­tes Han­deln ent­steht. Alles Tun wan­delt sich vom Gele­gent­li­chen zum Struk­tu­rel­len. Dar­aus ent­steht eine Umgangs­emp­feh­lung für alle an der Ver­sor­gung betei­lig­ten. Das ist Mäeu­tik.

Frei erzählt, in Anleh­nung an eine wah­re Bege­ben­heit.
Aus­gangs­ba­sis des Tex­tes von Agnes Schnit­ger.
Text: Thek­la Lei­ne­mann