Geschichten

Der Mann ohne Schuhe

Ein unvergesslicher Abend

Es ist Sams­tag Abend und das ört­li­che Kino lockt mich mit einem Film über Pablo Picas­so. Ich mache mich früh auf den Weg, möch­te vor dem Film noch ein Glas Wein genie­ßen. Mit der Ein­tritts­kar­te in der Tasche, set­ze ich mich in die Bar neben­an und bestel­le einen Rosé. Mein Blick schweift durch die gro­ßen Fens­ter nach drau­ßen. Die Men­schen huschen vor­bei, denn es ist kalt und win­dig. Früh­lings­wet­ter von der unge­müt­li­chen Sor­te. Plötz­lich ent­de­cke ich eine leicht tor­keln­de Gestalt. Es ist ein Mann von schät­zungs­wei­se 50 Jah­ren. Er wirkt erschöpft, sein Gang unsi­cher.

Ich schaue genau­er hin und traue mei­nen Augen kaum: der Mann trägt ein Kran­ken­haus­hemd…! Eines von der Sor­te, die man vor Ope­ra­tio­nen über­ge­zo­gen bekommt und die hin­ten offen sind. Dazu trägt er eine Blue­jeans und Socken. Kei­ne Schu­he, kei­ne Jacke. Ich den­ke sofort, dass der Mann aus dem nahe gele­ge­nen Kran­ken­haus kom­men muss. Er sieht ver­stört aus, scheint sich ver­lau­fen zu haben. Und defi­ni­tiv friert er.
Ohne län­ger zu über­le­gen sprin­ge ich auf, bit­te im Vor­bei­lau­fen eine Dame am Nach­bar­tisch die Poli­zei zu rufen und has­te nach drau­ßen. 

Ich nähe­re mich dem Mann ohne Schu­he, schaue ihm besorgt ins Gesicht und sage: „Sie sehen aber müde aus!“
„Ja“, sagt er mit erschöpf­ter Stim­me und sieht mich eben­falls an. „Ich habe drei Tage nicht geschla­fen. Ich will zu mei­ner Frau.“ Dann legt er eine Pau­se ein und scheint nach­zu­den­ken. „Wir woh­nen in der Sutt­hau­ser Stra­ße“, fügt er schließ­lich hin­zu und sucht die Umge­bung nach einem Ori­en­tie­rungs­punkt ab.
Bevor er wei­ter­ge­hen kann, berüh­re ich ihn vor­sich­tig an der Schul­ter. „Da haben Sie aber einen wei­ten Weg vor sich. Wol­len Sie sich vor­her bei einer Tas­se Tee etwas auf­wär­men?“ Ich deu­te in Rich­tung Bar und sage mit sanf­ter Stim­me zu ihm: „set­zen Sie sich doch zu mir. Wir leis­ten uns etwas Gesell­schaft.“ 

Nach einem kur­zen Augen­blick des Nach­den­kens beglei­tet mich der Mann ohne Schu­he lang­sa­men Schrit­tes in das Lokal und setzt sich mit mir an den Tisch.

Es braucht keine großen Worte

„Ist es schön bei Ihnen zu Hau­se?“, fra­ge ich ihn inter­es­siert. „Haben Sie eine net­te Frau…?“
Der Mann ent­spannt sich und beginnt zu erzäh­len. Er spricht lang­sam und manch­mal zusam­men­hang­los. Wenn er nicht wei­ter kommt, hel­fe ich ihm mit ein paar ergän­zen­den Wor­ten. Ich bestä­ti­ge ihn dort, wo ich es für rich­tig hal­te, hake nach, wenn er sei­ne Erin­ne­rung wie­der fin­det und spen­de ihm mei­ne unge­teil­te Auf­merk­sam­keit. So, wie ich es nach dem Mäeu­ti­schen Betreu­ungs­mo­dell gelernt habe und im täg­li­chen Umgang mit Demenz­pa­ti­en­ten anwen­de.
Unse­re Unter­hal­tung plät­schert manch­mal vor sich hin, manch­mal stockt sie eini­ge Augen­bli­cke lang, doch ich höre ihm ger­ne zu. 

Nach einer Wei­le sehe ich das Blau­licht eines Ret­tungs­wa­gens durch die Nacht zucken. Wäh­rend das Fahr­zeug näher kommt und schließ­lich vor der Bar anhält, legt sich ein beun­ru­hi­gen­des blau­es Fla­ckern über die Sze­ne­rie an unse­rem Tisch. Zwei jun­ge Ret­tungs­as­sis­ten­ten sprin­gen aus dem Kran­ken­trans­por­ter, gehen for­schen Schrit­tes in die Bar und sehen suchend umher. Dann erbli­cken sie den Mann ohne Schu­he. Umge­hend kom­men sie auf uns zu. 

Nach einem kur­zen Wort­wech­sel grei­fen Sie mei­nen Gesprächs­part­ner links und rechts unter die Arme, zer­ren ihn vom Stuhl, bug­sie­ren ihn aus dem Lokal und drän­gen ihn in Rich­tung des Ret­tungs­wa­gens. Die ande­ren Bar-Besu­cher beob­ach­ten inter­es­siert, was vor sich geht. Nie­mand sagt etwas. Auch ich fin­de kei­ne Wor­te des Pro­tes­tes wegen der rüden Vor­ge­hens­wei­se der jun­gen – und mög­li­cher­wei­se in die­sen Situa­tio­nen uner­fah­re­nen – Kran­ken­wa­gen­be­sat­zung.

Durch die Fens­ter kann ich von mei­nem Tisch aus beob­ach­ten, wie ver­sucht wird, den Mann ohne Schu­he zum Mit­fah­ren zu bewe­gen. Er win­det sich und rudert mit den Armen. Er ent­zieht sich immer wie­der den nach ihm grei­fen­den Hän­den, dreht sich plötz­lich weg und läuft auf unsi­che­ren Bei­nen los. Die jun­gen Ret­tungs­as­sis­ten­ten schei­nen völ­lig über­rum­pelt zu sein. Ehe sie sich ent­schei­den kön­nen zu han­deln, ver­schwin­det der Mann ohne Schu­he in der Dun­kel­heit.

Demenz ist kein Verbrechen

Per­plex star­re ich aus dem Fens­ter. Ich hal­te den Atem an, will auf­sprin­gen und hin­aus lau­fen. Doch dann ergreift mich das Gefühl, zur Ret­tung der Situa­ti­on nichts mehr bei­tra­gen zu kön­nen. Also schaue ich nach­denk­lich auf mein fast geleer­tes Glas Rosé­wein, wäh­rend sich der Ret­tungs­wa­gen ent­fernt. Wie sehr ich es doch plötz­lich bereue, den Mann nicht selbst hin­aus beglei­tet zu haben! Doch hät­ten die jun­gen Män­ner mich ver­stan­den? Sie hat­ten sicher­lich ihr bes­tes getan. Waren auf den Umgang mit ori­en­tie­rungs­lo­sen Per­so­nen viel­leicht gar nicht expli­zit geschult wor­den.
Ich muss dar­an den­ken, wie leicht doch sol­che Situa­tio­nen zu lösen wären, wenn Alle etwas mehr Geduld im Umgang mit ver­wirr­ten Men­schen hät­ten. Wenn jeder wüss­te, wie sehr in paar freund­li­che Wor­te und eine Por­ti­on Empa­thie wei­ter hel­fen wür­den. 

Demenz zu haben oder ver­wirrt zu sein, ist kein Ver­bre­chen. Gewalt­an­wen­dung wirkt abso­lut kon­tra­pro­duk­tiv! Bit­te, lie­be Mit­men­schen, ver­su­chen Sie die Gefüh­le des Ande­ren zu erken­nen und spre­chen Sie ihn gezielt dar­auf an. „Sie sehen aber müde aus. Kom­men Sie, ich spen­die­re Ihnen eine Tas­se Tee“, ist manch­mal alles, was es braucht, um das Eis zu bre­chen.

Frei erzählt nach einer wah­ren Bege­ben­heit.
Erleb­nis­be­richt: Agnes Schnit­ger, exami­nier­te Kran­ken­schwes­ter, Dozen­tin an der VHS und Inha­be­rin von Vivo­Mea
Text: Thek­la Lei­ne­mann