Aktuelles, Besser leben mit Demenz

Demenz bei jüngeren Menschen

Der Krank­heits­be­ginn bei Alz­hei­mer liegt vor dem 75 Lebens­jahr. Wenn im Bekann­ten­kreis ein Mensch in die­sem jun­gen Senio­ren­al­ter dar­an erkrankt, ist Hilf­lo­sig­keit und „nicht wahr haben wol­len“ oft die Reak­ti­on der Umge­bung. Wir bei Vivo­Mea geben Betrof­fe­nen und Ange­hö­ri­gen Unter­stüt­zung auf dem Weg des Ver­ste­hens und der Annah­me.

Demenz bei jüngeren Menschen – wir beleuchten ein emotionales und vielschichtiges Thema

Es sind Men­schen um die 65, die teil­wei­se noch im Berufs­le­ben ste­hen oder gera­de das Ren­ten­al­ter erreicht haben, die Part­ner­schaft und Eltern­schaft aus­fül­len und auf das Leben jen­seits von beruf­li­chen Ver­pflich­tun­gen freu­en. Sie wol­len ihre neu­en Frei­hei­ten und die Fül­le der Mög­lich­kei­ten in vol­len Zügen genie­ßen. Das Senio­ren­al­ter ist noch nicht rea­li­siert und die Vor­stel­lung von mög­li­cher alters­be­ding­ter Dege­ne­ra­ti­on weit ent­fernt.

Eine Erkran­kung an Demenz wirft sie und ihre Fami­li­en aus ihrem Lebens­ent­wurf. Demenz bei Jün­ge­ren kün­digt sich nicht an, ist bis­lang nicht vor­her­seh­bar und damit auch nicht durch geziel­te Maß­nah­men ver­meid­bar. Sie beginnt schlei­chend und führt häu­fig für die Betrof­fe­nen und ihre Ange­hö­ri­gen in die sozia­le Iso­la­ti­on. Rück­zug, Ver­mei­dung, Ver­leug­nung sind die gän­gi­gen Reak­tio­nen von Men­schen im Umfeld. Sie gehen der Kon­fron­ta­ti­on mit der Krank­heit und ihren Emo­tio­nen aus dem Weg, weil sie nicht wis­sen, wie sie damit umge­hen sol­len. 

Bei Vivo­Mea zei­gen wir Wege auf, wie die neue Lebens­si­tua­ti­on erleich­tert wer­den kann. Wir geben Betrof­fe­nen einen Schutz­raum und ste­hen Ange­hö­ri­gen mit offe­nen Ohren, Rat und Tat zur Sei­te. Unser mäeu­ti­sches Pfle­ge­kon­zept eröff­net Mög­lich­kei­ten, bei denen die her­kömm­li­che Pfle­ge längst nicht mehr greift.

Der Einzug in eine Dementen-Wohngemeinschaft als Tabubruch

Die Ange­hö­ri­gen von jun­gen Men­schen mit Demenz kom­pen­sie­ren die nega­ti­ven Ver­än­de­run­gen im Leben oft über einen lan­gen Zeit­raum. Sie wol­len das Bes­te für ihre Lie­ben tun und sehen sich plötz­lich als Ver­rä­ter, wenn sie einen Umzug in die Pfle­ge­ein­rich­tung in Erwä­gung zie­hen. Sie sind ver­zwei­felt und über­for­dert. Sie haben sich so wenig wie mög­lich in das Leben der von Demenz betrof­fe­nen Per­son ein­ge­mischt, um ihr das Gefühl der Selbst­stän­dig­keit zu erhal­ten. Sie haben Ver­däch­ti­gun­gen und Miss­trau­en ertra­gen, auf eige­nen Kom­fort ver­zich­tet. Sie haben sich Sor­gen dar­über gemacht, ob die Per­son aus­rei­chend geges­sen und getrun­ken hat, ob sie sich ver­lau­fen oder den Herd nicht aus­ge­schal­tet hat. Sie haben immer wie­der die Woh­nung auf­ge­räumt und Din­ge gesucht und sie sind oft an ihre eige­nen Gren­zen gesto­ßen. 

Oft ste­hen die Lebens­part­ne­rie s von jun­gen Men­schen mit Demenz noch mit­ten im Berufs­le­ben. Sie haben Kin­der, die ihre berech­tig­ten Ansprü­che stel­len sowie eige­ne Zie­le, Träu­me, Hob­bys und ganz natür­lich auch den Wunsch nach Part­ner­schaft. Sie über­neh­men immer mehr die allei­ni­ge Ver­ant­wor­tung in der Fami­lie. Sie ver­nach­läs­si­gen ihre eige­ne psy­chi­sche und phy­si­sche Gesund­heit. Sor­gen sich nicht sel­ten um finan­zi­el­le Belan­ge und ihre Zukunft und füh­len, wie ihr Leben aus der Bahn gerät. Spä­tes­tens dann ist der Zeit­punkt gekom­men, zu han­deln. Wenn sie ihre(n) von Demenz betroffene(n) Ange­hö­ri­gen in die Obhut von Pfle­ge­kräf­ten in einer Pfle­ge­ein­rich­tung geben, tun sie das jedoch mit einer Mischung aus Schuld­ge­füh­len, Kum­mer und Erleich­te­rung. 

Jun­ge Men­schen mit Demenz sind vol­ler Unter­neh­mer­geist und leh­nen daher jede Form von Maß­nah­men ab, die sie als Ein­schrän­kung emp­fin­den. In ihrem Zuhau­se fin­den sie Ori­en­tie­rung, Beschäf­ti­gung, Unter­hal­tung, sie erle­ben sich als Selbst­be­stimmt. Ihr Grad der Selbst­stän­dig­keit reprä­sen­tiert für sie den eige­nen Wert. Im Alter von 60, 65 braucht man kei­ne Beleh­rung und kei­ne Kon­trol­le – ers­te Recht nicht im eige­nen „Reich“. Wenn sie zu Vivo­Mea kom­men, wer­den sie mit­ten aus dem akti­ven Leben her­aus­ge­ris­sen. 

Wenn betag­te Men­schen mit Demenz in unser Haus ein­zie­hen, haben sie sich oft schon mit ihrer Lebens­si­tua­ti­on ange­freun­det. Sofern sie es kön­nen, rich­ten sie ihr Zim­mer gemüt­lich her, neh­men Hil­fen an und fügen sich ihren Fähig­kei­ten ent­spre­chend in unse­rer Gemein­schaft ein. Es ist für sie wie ein fast vor­her­seh­bar gewe­se­ner Lebens­ab­schnitt. Doch wenn ein jün­ge­rer Mensch mit Demenz in unser Haus kommt, sieht die Situa­ti­on ganz anders aus.

Wenn sich der Ein­zug in eine Demen­ten-Wohn­ge­mein­schaft wie ein Bruch mit dem Leben anfühlt, wenn Betrof­fe­ne nicht ver­ste­hen, was mit ihnen geschieht, ste­hen wir als Betreu­en­de vor neu­en Her­aus­for­de­run­gen. Wenn die bei Senio­ren so erfolg­rei­chen Maß­nah­men nicht wir­ken, wenn wir mit agi­len, kör­per­lich fit­ten Mitt­sech­zi­gern zu tun haben, die ihre kogni­ti­ven Fähig­kei­ten mit rapi­der Geschwin­dig­keit ein­bü­ßen, müs­sen wir ande­re Betreu­ungs­kon­zep­te ent­wer­fen. Müs­sen aus unse­ren Erfah­run­gen neue Schlüs­se zie­hen und eva­lu­ie­ren, um das Rich­ti­ge zu tun.

Mäeutik ist der Weg

Nach dem mäeu­ti­schen Pfle­ge- und Betreu­ungs­kon­zept zu arbei­ten bedeu­tet, dass wir bio­gra­fie­ori­en­tiert vor­ge­hen. Dass wir kei­ne Scha­blo­ne über die uns anver­trau­ten Men­schen legen und ver­su­chen, sie dort hin­ein zu pres­sen, son­dern dass wir mit Hil­fe von Ange­hö­ri­gen und fort­wäh­ren­der Doku­men­ta­ti­on ein genau­es Bild von der Per­son erfas­sen. Dar­aus lei­ten wir ab, wie der Mensch behan­delt wer­den soll­te, damit er sein eige­nes Selbst­bild auf­recht erhal­ten, bzw. wie­der­her­stel­len kann. Wir bei Vivo­Mea sehen den Men­schen hin­ter dem Ver­hal­ten. Wir ler­nen sei­ne Spra­che, sei­ne Zei­chen. Wir respek­tie­ren sei­nen Raum, sei­nen Rhyth­mus, sei­ne Vor­lie­ben und schüt­zen sei­ne Selbst­wahr­neh­mung.

Wir lindern mit Humor und Zuwendung

Nor­ma­li­tät bedeu­tet Alles. Die Auf­recht­erhal­tung der Fas­sa­de einer schein­ba­ren Nor­ma­li­tät ist für jun­ge Men­schen mit Demenz der ein­zi­ge Halt. Sie kön­nen sich in ihrer neu­en Lebens­si­tua­ti­on nur lang­sam ori­en­tie­ren. Sie wol­len sich nicht ver­lie­ren. Sie füh­len sich vital, wol­len aktiv blei­ben, ein wert­vol­ler Teil der Gemein­schaft. Sie haben Angst vor dem Ver­lust ihrer Rea­li­tät und vor dem Gefühl nicht mehr gebraucht zu wer­den. Sei fürch­ten sich davor, den Sinn des Lebens zu ver­lie­ren.

Wir sehen es als unse­re Auf­ga­be an, den Betrof­fe­nen die größt­mög­li­che Wahl­frei­heit zu las­sen. Ihre Wün­sche nach Selbst­stän­dig­keit zu erfül­len – so viel und so lan­ge wie mög­lich. Wir gän­geln nicht, wir schau­en ihnen nicht auf die Fin­ger, als wären sie hilfs­be­dürf­tig. Ihre Ver­letz­lich­keit ist so groß, dass schon klei­ne Ver­än­de­run­gen in der Stim­me oder eine unbe­dach­te Ges­te zu Abwehr­re­ak­tio­nen füh­ren. Ach­tung und Respekt im Mit­ein­an­der haben obers­te Prio­ri­tät. Eine Begeg­nung auf Augen­hö­he, wo man weiß, was man von dem ande­ren erwar­ten kann.

Betrof­fe­ne haben ein rie­si­ges Bedürf­nis nach Zuge­hö­rig­keit, nach Bin­dung und Anleh­nung. Es ent­ste­hen Freund­schaf­ten, man geht gemein­sam auf der Ter­ras­se eine Ziga­ret­te genie­ßen oder ver­ab­re­det sich zu Spa­zier­gän­gen. Manch­mal ent­wi­ckeln sich sogar zar­te roman­ti­sche Ver­bin­dun­gen, die in die­sem Kon­text jedoch nicht an Erwar­tun­gen geknüpft sind. Namen und Per­sön­lich­kei­ten sind schnell ver­ges­sen, man ori­en­tiert sich neu, wie es gera­de am bes­ten passt.

Jun­ge und betag­te Men­schen mit Demenz fin­den kei­ne gemein­sa­me Kom­mu­ni­ka­ti­ons­schie­ne. Unse­re hoch­be­tag­ten Senio­ren lei­den unter Gedächt­nis­schwä­che, leben vor­wie­gend in ihrer Kind­heit und sind sind eher auf ruhi­ge Akti­vi­tä­ten bedacht, die ihren schwin­den­den moto­ri­schen Fähig­kei­ten ent­spre­chen. Die Jün­ge­ren dage­gen wech­seln spon­tan zwi­schen ihren alten Rol­len­bil­dern, sie wol­len invol­viert und gekannt sein und ihre Fähig­kei­ten und Inter­es­sen aus­le­ben. 

Ganz all­täg­li­che Freu­den, wie Spa­zier­gän­ge, Schau­fens­ter­bum­mel, im Eis­kaf­fee sit­zen und Men­schen beob­ach­ten, las­sen uns Men­schen das Leben spü­ren. Wir wol­len attrak­tiv sein und lachen und uns wahr­ge­nom­men füh­len. Um unse­ren jun­gen Mit­be­woh­nern die­ses Lebens­ge­fühl zu erhal­ten, bie­ten wir ihnen viel­fäl­ti­ge Akti­vi­tä­ten – wir betei­li­gen sie am All­tags­ge­sche­hen, bestä­ti­gen sie in ihrem Enga­ge­ment und geben ihnen das Gefühl eine wert­vol­le Unter­stüt­zung zu sein.

Die­se Form der Akti­vi­tät ver­leiht ihnen auch dann wie­der Halt, wenn sie plötz­lich von ihren nega­ti­ven Gefüh­len über­wäl­tigt wer­den und die Kon­trol­le über ihr Sozi­al­ver­hal­ten ver­lie­ren. 

Hinsehen, zuhören, hinein fühlen

Bei jun­gen von Demenz Betrof­fe­nen dreht sich die Welt schnel­ler. Im Gegen­satz zu unse­ren betag­ten Bewoh­nern, steht nicht der Erhalt der Fähig­kei­ten im Vor­der­grund, son­dern der Erhalt der Per­sön­lich­keit. Das Fort­schrei­ten ihrer Krank­heit führt in kom­pri­mier­ter Form zur Hilf­lo­sig­keit. Schon sehr früh ver­schwin­det zuneh­mend die Sprach­fä­hig­keit und manch­mal auch das Sprach­ver­ständ­nis. Die nach­las­sen­de Kon­trol­le über die Aus­schei­dung ist meis­tens der schwers­te Ver­lust, denn für das Klein­kind ist die Aus­schei­dungs­kon­trol­le der ers­te Schritt in die Selbst­stän­dig­keit.

Jede Form der Hil­fe – vor allem die der Selbst­ver­sor­gung – leis­ten wir unter größt­mög­li­cher Zurück­hal­tung. „Mit den Hän­den in den Hosen­ta­schen“ lei­ten wir an, aber grei­fen nicht gleich ein. Je mehr die Demenz die Regie über­nimmt, des­to mehr kommt uns unser Wis­sen über die Per­son zu Gute. Wir kön­nen ein­schät­zen, wann wel­che Maß­nah­men rat­sam sind. Das Vivo­Mea-Team schaut hin, hört zu, fühlt sich ein, führt die unter­schied­li­chen Erfah­run­gen der Team­mit­glie­der zusam­men und passt den Grad der Unter­stüt­zung immer wie­der an, ohne den Men­schen zu über­wäl­ti­gen. 

Wenn die Fähig­keit zu spre­chen abnimmt, lesen wir am Ver­hal­ten ab, was die Per­son möch­te. Wir gehen nicht vor­bei, wir deu­ten ihre lei­sen Zei­chen. Und manch­mal hilft ihr eine Umar­mung oder ein Kuss auf die Wan­ge, um sich ver­stan­den und ange­nom­men zu füh­len. Schrei­tet die Demenz wei­ter fort, kommt es zum Ver­lust über die Kon­trol­le des eige­nen Lebens. Bei jun­gen Men­schen mit Demenz ist die­ser Zeit­raum nur kurz, aber beson­ders schwer zu ertra­gen, weil ihnen ihre Selbst­be­stim­mung so viel bedeu­tet hat. Betrof­fe­ne emp­fin­den gro­ße Wut und Trau­er und benö­ti­gen ein Extra an Sicher­heit. Des­halb beglei­ten wir die­sen Pro­zess mit einer Ver­trau­ens­per­son aus der Pfle­ge, die einen beson­de­ren Zugang zum Pati­en­ten hat. Spa­zier­gän­ge in der Umge­bung hel­fen außer­dem, den auf­ge­stau­ten Emo­tio­nen ein Ven­til zu geben.

Die Pfle­ge­wis­sen­schaft­le­rin Cora van der Kooij sagt: „Wenn das Alter als fort­ge­setz­ter Ver­lust und Demenz als Tra­gö­die emp­fun­den wird, dann muss die posi­ti­ve Anpas­sung an die ver­än­der­ten Mög­lich­kei­ten in den Vor­der­grund gerückt wer­den.“

Text: Thek­la Lei­ne­mann, Agnes Schnit­ger