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Das, was fehlt

Ken­nen Sie die Situa­ti­on, in der man kurz stut­zen muss, weil etwas nicht mehr da ist, aber es einem zuerst par­tout nicht ein­fal­len will, wor­um es sich han­delt? Weil es so zur Nor­ma­li­tät gewor­den war, dass man es für selbst­ver­ständ­lich genom­men hat? Wir bei Vivo­Mea erfah­ren die­se Situa­ti­on in unse­rem nicht ganz gewöhn­li­chen Pfle­ge­all­tag.

Fernöstliche Weisheiten und eine bemerkenswerte Erkenntnis

Im Dao­de­jing, einem welt­be­rühm­ten klei­nen Buch der Weis­heit, wird der chi­ne­si­sche Phi­lo­soph Lao-Tse, mit den Wor­ten zitiert (je nach Über­set­zung): „Die Bedeu­tung der Din­ge liegt dort, wo sie nicht sind.“ Auch wenn die­se phi­lo­so­phi­schen Gedan­ken viel­leicht nicht sofort ver­ständ­lich sind, wer­den sie in dem Augen­blick klar, wenn man eine öffent­li­che Toi­let­te benutzt und fest­stellt, dass das Toi­let­ten­pa­pier nicht nach­ge­füllt wur­de. Welch sagen­haft gro­ße Bedeu­tung erhält ein sonst so bei­läu­fig benutz­tes Hilfs­mit­tel doch in dem Moment…! Vor die­sem Hin­ter­grund erscheint mir das, was mir durch Abwe­sen­heit auf­ge­fal­len ist, um so bemer­kens­wer­ter. 

Anläss­lich unse­res 2‑jährigen Fir­men­ju­bi­lä­ums als Vivo­Mea, hat­te ich mich für ein Resü­mee zurück gezo­gen. Ich woll­te fest­hal­ten, was sich in den let­zen 24 Mona­ten als erfolg­reich und was sich als hin­der­lich ent­puppt hat­te und mir Gedan­ken über unse­re Zukunft machen. Wir hat­ten uns in unserm schö­nen, moder­nen Haus inzwi­schen gut ein­ge­lebt. Die Gäs­te lie­ben die groß­zü­gi­gen Gemein­schafts­be­rei­che, hel­fen beim Kochen, im Haus­halt oder bei der Gar­ten­ar­beit, nut­zen die Abwechs­lung in unse­rer „Guten Stu­be“ und schei­nen rund­um glück­lich mit ihrer Situa­ti­on zu sein. Auch unse­re Pfle­ge­kräf­te und das gesam­te Team hat­ten sich gut ein­ge­lebt. Unser Agnes-Schnit­ger-Haus ist ein leben­di­ger Ort gewor­den.

Weil mir die gesund­heit­li­che Ent­wick­lung unse­rer von Demenz betrof­fe­nen Gäs­te so sehr am Her­zen liegt, hat­te ich die Pfle­ge bei Vivo­Mea auf das mäeu­ti­sche Pfle­ge- und Betreu­ungs­kon­zept nach Cora van der Kooij aus­ge­rich­tet. Und obwohl ich von dem Kon­zept über­zeugt war und es schon seit Jah­ren in mei­ner Arbeit anwen­de­te, war mir im All­tags­tru­bel bis­lang kein Raum geblie­ben, um zu hin­ter­fra­gen, wel­che Ergeb­nis­se wir als Team Vivo­Mea damit bis­lang erzielt hat­ten. 

Und dann kam die­ser Moment, in dem ich merk­te, dass etwas fehlt. Es war die Doku­men­ta­ti­on der fort­schrei­ten­den gesund­heit­li­chen Ein­schrän­kun­gen unse­rer Gäs­te. Denn sie hat­ten schlicht und ergrei­fend kei­ne.

Unsere Erfahrungen torpedieren wissenschaftliche Aussagen

Wis­sen­schaft­li­che Ergeb­nis­se zei­gen auf, dass bei Alz­hei­mer-Pati­en­ten (Alz­hei­mer ist eine Form der Demenz) Pro­te­ine des kör­per­ei­ge­nen Eiwei­ßes Beta-Amy­lo­id die Ner­ven­zel­len in der Groß­hirn­rin­de und dem Hip­po­cam­pus durch toxi­sche Abla­ge­run­gen zer­stö­ren. (Zum Nach­le­sen: Web­site der Alz­hei­mer-For­schung). Des wei­te­ren hat sich die Ansicht durch­ge­setzt, dass aus­schließ­lich eine medi­ka­men­tö­se Behand­lung die­sen Ver­falls­pro­zess auf­hal­ten kann. Doch hat sich in unse­rer pfle­ge­ri­schen Arbeit bis­her ein ganz ande­res Bild gezeigt. 

Die Gäs­te bei Vivo­Mea sind zwi­schen 60 und 90 Jah­re alt und leben mit unter­schied­li­chen Aus­prä­gun­gen von Demenz. Par­al­lel zu ihrem Ein­zug ins Agnes-Schnit­ger-Haus, durch­leuch­ten wir mit Hil­fe ihrer Ange­hö­ri­gen, Ärz­te und Betreu­er, wel­che Bedürf­nis­se und Gewohn­hei­ten die Per­son bis­her hat­te. Wel­chem Beruf, wel­chen Hob­bys und Lei­den­schaf­ten ist sie nach­ge­gan­gen? Was isst sie ger­ne und wann und wie oft am Tag möch­te sie ihre Mahl­zei­ten ein­neh­men? War die Per­son ein zurück­hal­ten­der oder akti­ver Cha­rak­ter, Früh­auf­ste­her oder Lang­schlä­fer? Wel­che All­tags­ri­tua­le waren ihr bis­lang wich­tig? Wel­che Ereig­nis­se in ihrem Leben haben ihre Per­sön­lich­keit maß­geb­lich geprägt usw. 

Basie­rend auf allen ver­füg­ba­ren Infor­ma­tio­nen, kre­ieren wir dann die best­mög­li­chen Lebens­um­stän­de bei Vivo­Mea und über­prü­fen in den regel­mä­ßig statt­fin­den­den Bewoh­ner­be­spre­chun­gen, wel­che neu­en Erkennt­nis­se sich erge­ben haben und wie wir die Situa­ti­on anpas­sen kön­nen. Jedes Mit­glied unse­res Teams bringt dann per­sön­li­che Beob­ach­tun­gen und Erfah­run­gen mit unse­rem Gast ein und oft stellt sich her­aus, wie wich­tig die indi­vi­du­el­le Bezie­hung zwi­schen bei­den Par­tei­en ist. Ist eine Pfle­ge­kraft per­sön­lich in einer schlech­ten Ver­fas­sung, fühlt sie sich schnel­ler vom Ver­hal­ten eines Gas­tes ange­grif­fen oder pro­vo­ziert und eine – meist unschö­ne – Wech­sel­wir­kung ent­steht. Aber sobald unse­re Team­mit­glie­der die Bio­gra­fie eines Gas­tes genau ken­nen, kön­nen sie deut­lich selbst­re­flek­tier­ter mit ihm arbei­ten. Sie wis­sen, war­um die Dame oder der Herr sich so ver­hält und ver­mei­den es, ihre eige­nen Gefüh­le mit denen des Gas­tes zu ver­mi­schen. Auf die­se Wei­se wach­sen unse­re Pfle­ge- und Betreu­ungs­kräf­te oft über sich hin­aus und das Mit­ein­an­der bekommt einen natür­li­chen Fluss. 

Die Haptik der Lebendigkeit

In Abspra­che mit den medi­zi­ni­schen Fach­leu­ten, ver­wen­den wir bei Vivo­Mea kei­ne sedie­ren­den Medi­ka­men­te. Gäs­te, die zuvor einer der­ar­ti­gen Medi­ka­ti­on unter­zo­gen wur­den, blü­hen nach eini­ger Zeit auf. Sie erhal­ten wie­der Zugang zu ihren Gefüh­len und Stim­mun­gen und erfah­ren sich neu. 

Unter die­sen Bedin­gun­gen füh­len sich unse­re Gäs­te gestärkt. Sie wer­den in ihren jewei­li­gen Stim­mun­gen emp­fan­gen und müs­sen sich nicht gegen Zwän­ge stem­men. Dadurch agie­ren sie wie­der als Per­sön­lich­keit. Sie bewe­gen sich frei zwi­schen ihrem Rück­zugs­be­reich und unse­rer Tages­pfle­ge „Die Gute Stu­be“. Sie gehen spa­zie­ren oder genie­ßen unse­re Außen­an­la­gen. Sie tref­fen ande­re Gäs­te und Besu­cher. Sie spie­len und spei­sen in Gesell­schaft, sie strei­ten, fin­den Lösun­gen und ver­tra­gen sich wie­der. 

Die­se kogni­ti­ven Rei­ze sind so aus­ge­spro­chen wich­tig für die Ent­wick­lung des Mensch­li­chen Gehirns, weil sie an das sozia­le Mit­ein­an­der gebun­den sind. Mit sich selbst in Klau­sur gehen, Kon­flik­te aktiv lösen und sich in einer Gemein­schaft zurecht zu fin­den, erfor­dert Krea­ti­vi­tät, för­dert Altru­is­mus und ani­miert zum Umden­ken, wäh­rend das soge­nann­te Gehirn­jog­ging als Ein­zel­be­schäf­ti­gung kei­ne sozia­len Fähig­kei­ten sti­mu­liert. 

Ent­ge­gen des all­ge­mei­nen Leit­ge­dan­kens, dass Men­schen mit Demenz mög­lichst wenig Rei­zen aus­ge­setzt wer­den sol­len, um ihre Sym­pto­me nicht zu ver­stär­ken, haben wir also ganz ande­re Erfah­run­gen gemacht. Vor­aus­set­zung ist aller­dings, dass die Betrof­fe­nen sich sicher und in ihrem Sosein aner­kannt füh­len und sich bei dro­hen­der Reiz­über­flu­tung auf eige­ne Initia­ti­ve hin zurück zie­hen kön­nen. 

Und das ist noch nicht alles. Wir bei Vivo­Mea gehen sogar so weit, dass wir unse­re Gäs­te dazu ani­mie­ren, sich fro­hen Her­zens für neu­es zu öff­nen. Der Geschmack, das musi­ka­li­sche Gehör, all­täg­li­che Beschäf­ti­gun­gen und ande­re sinn­li­che Erfah­run­gen, wer­den durch die dosier­te Kon­fron­ta­ti­on mit dem Unbe­kann­ten akti­viert und Lern­pro­zes­se ange­sto­ßen. Bei kei­nem unse­rer Gäs­te haben sich die kogni­ti­ven Fähig­kei­ten – in Bezug auf die Demenz – nega­tiv ent­wi­ckelt. Wir beob­ach­ten sogar in eini­gen Fäl­len, dass sich das gesam­te Wesen der Men­schen, inklu­si­ve ihrer sozia­len und kogni­ti­ven Fähig­kei­ten, die Freu­de am Leben und die Selbst­wahr­neh­mung deut­lich ver­bes­sert. Des­halb ver­zich­ten wir nicht nur auf die Gabe von Seda­ti­va, son­dern auch auf die medi­ka­men­tö­se Behand­lung mit Anti­de­men­ti­va. Wir bau­en statt­des­sen wei­ter auf die Fort­bil­dung unse­rer Pfle­ge­kräf­te und Betreuer(innen). So set­zen wir ein wich­ti­ges Zei­chen für mehr Zuwen­dung, in einer Welt, die den unauf­fäl­lig funk­tio­nie­ren­den Men­schen meist über die Bedürf­nis­se des Indi­vi­du­ums stellt. 

Agnes Schnit­ger, Vivo­Mea

Text: Thek­la Lei­ne­mann

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